Erasmus-Praktikum im Ausland: Ich lerne Estnisch
Estland- ein kleiner baltischer Staat weit oben an der Ostsee. Man hört immer wieder über die technologischen Fortschritte, die in diesem kleinen Land so einiges möglich machen. Von der Eröffnung eines Unternehmens bis hin zum Wählen – alles ist online möglich. Es stimmt; bevor ich jemals persönlich mit Estland in Berührung kam, habe ich selbst bzw. haben Familienmitglieder von mir unterschiedliche estnische Apps und Dienstleistungen verwendet. So habe ich schon den Banking Service von Wise benutzt und mein Vater hat Geld bei Bondora angelegt, ganz abgesehen von der Flotte von Bolt Autos in Berlin. Nun kam es jedoch dazu, dass ich jemanden aus Estland kennengelernt habe und mich dazu entschlossen habe, mein Auslandssemester als Praktikant im Übersetzungsbüro Transly zu absolvieren. So begann meine Reise, die estnische Sprache zu lernen.
Die Anfangsphase des Sprachenlernens
Noch vor meinem Praktikumsbeginn im September habe ich einen Monat in Estland Urlaub gemacht und alles von Setomaa bis Hiiumaa erkundet. Insbesondere in dieser Zeit habe ich die Basics gelernt, welche Person welche Verbendung hat, das grundlegende Vokabular und so weiter. Außerdem habe ich in dieser Zeit meine ersten Versuche mit den 14 Fällen gewagt und das auch hauptsächlich falsch. Gerade mit diesen Fällen habe ich den Dunning-Kruger-Effekt zu spüren bekommen. Je mehr ich verstanden habe, desto mehr habe ich verstanden, dass ich nichts verstehe. Die vielen Irregularitäten in den Fällen und viele Ausdrücke, die mit einem anderen Fall ausgedrückt werden als man es im Deutschen mit der äquivalenten Präposition ausdrücken würde. Nun habe ich aber Blut geleckt und lasse mich nicht von den Fällen oder zugegebenermaßen manchmal komischen Wörtern (uuskasutuskeskus) einschüchtern.
Ich habe im September mit meinem Praktikum angefangen und hier auch meine ersten „echten“ Erfahrungen mit dem Übersetzen gemacht. Dementsprechend gab es für mich in dieser Anfangsphase sehr viele neue Eindrücke, nicht nur die Umgewöhnung, dass ich jetzt in Estland lebe, sondern auch mit meiner Arbeitstätigkeit. Ich habe dies sehr genossen. In meiner Erfahrung des Sprachenlernens ist insbesondere die Anfangsphase sehr motivierend, man fängt an, die gelernten Wörter logisch aneinanderzureihen und man beginnt, sich in dieser neuen Sprache ausdrücken zu können. Das wird für mich stets aufregend sein.
Ich mache Fortschritte!
Mir wurde (und wird momentan immer noch) ein Sprachkurs für Estnisch von Transly gestellt, der mir sehr beim Lernen geholfen hat. Dank dieses Sprachkurses konnte ich Woche für Woche die großen grammatischen Fragezeichen, die sich über meinem Kopf gebildet haben, abarbeiten. Der Kurs besteht aus Übersetzungsübungen, Grammatikübungen, Unterhaltungen und einer Reihe weiterer hilfreicher Übungen. Außerdem wurden mir von meiner lieben Lehrerin viele Empfehlungen zu Ressourcen, die ich in meiner Freizeit anwenden kann, gegeben. Darunter die estnische Sprachlernplattform Speakly, sowie der estnische Klassiker Õnne 13. Ich habe viele Witze von der Familie meiner Freundin über Õnne 13 gehört und tatsächlich – der Dialog wird so langsam gesprochen, dass er sich anhört, als würde er für Estnisch lernende präsentiert werden.
Dank der wunderbaren Gastfreundlichkeit der Familie meiner Freundin nahm ich an vielen Familien-und auch Weihnachtsfeiern teil und wurde somit ein wenig in das kalte Wasser geschmissen, es gab nun keine andere Möglichkeit mehr als mit Oma oder Opa auf Estnisch zu sprechen und das habe ich dann auch getan. Man ist zwar seines eigenen Glückes Schmied, aber manchmal braucht man einen kleinen Schubser, um über seinen eigenen Schatten springen zu können. Insbesondere nach der Weihnachtszeit war ich bedeutend sicherer im Umgang mit der Sprache und habe mich mehr und mehr getraut zu sprechen und natürlich auch Fehler zu machen. Viele Menschen, die eine neue Sprache lernen, sprechen von einem ziemlich spezifischen Zeitpunkt, als die Sprache für sie „klick“ gemacht hat und sie bedeutend einfacher zu verstehen war. Für mich war dieser Zeitpunkt diese Weihnachtszeit. Nach dieser Phase konnte ich nun zu einem postkontor (Paketshop) gehen und Probleme erörtern sowie viele weitere soziale Interaktionen meistern, die ich vorher nicht auf Estnisch geschafft habe.
Schwierigkeiten und Methodik
Eine Sache, die sich für mich als überraschend schwierig erwiesen hat, ist die Kadenz, mit der Estnisch gesprochen wird, denn häufig wird der Wortanfang eines jeden Wortes betont. Das verleiht dem Estnischen meiner Meinung nach einen sehr schönen Klang, aber fällt mir schwer zu reproduzieren, dadurch höre ich mich häufig recht robotisch beim Sprechen an.
Da ich schon seit langer Zeit ein Fan von Sprachenlern-Experten wie z. B. Steve Kaufmann bin, habe ich auch auf Estnisch die Methoden angewendet, die ich von ihm gelernt habe. Insbesondere die Methode des „Comprehensible Input“- also der verständliche Input. Man eignet sich die Sprache an, indem man kontinuierlich Sachen anhört und liest, die ein wenig über dem eigenen Sprachniveau liegen. Zwar gibt es nicht ganz so viele unterschiedliche Dinge wie in anderen Sprachen aufgrund der Größe der Sprache, dennoch gibt es viele Kinderbücher und Lehrbücher zum Lernen.
Interessantes zur estnischen Sprache
Es ist interessant zu sehen, dass doch recht viele Wörter entweder Lehnwörter aus dem Deutschen sind oder in anderer Art und Weise germanischen Ursprungs. Die meisten dieser Wörter lassen sich im Zusammenhang mit Essen finden, wie z. B. peekon (Bacon), sink (Schinken), sibul (Zwiebel), pirn (Birne). Es gibt jedoch auch viele Beispiele, die nichts mit Essen zu tun haben: reis (die Reise), kleit (das Kleid) und närvis (nervös) (hier aber nur der Stamm nerv, dass sie gleich enden, ist eher Zufall).
Es lassen sich auch noch immer die Spuren der Baltendeutschen erkennen, auch wenn heutzutage die meisten Menschen die estnischen Ortsnamen verwenden. So gibt es dennoch immer noch einige, die die deutschen Namen verwenden, wie z. B. Ösel für Saaremaa oder Dagö für Hiiumaa. Wenn man sich auf Google Maps in Estland umschaut, findet man auch einige Skurrilitäten wie z. B. die größte Stadt auf der Insel Saaremaa ist dort als Arensburg beschriftet, obwohl sie auf Estnisch Kuressaare heißt und die Insel wie eben beschrieben auch als Saaremaa auf Deutsch beschriftet ist.
Eines meiner Lieblingswörter im Estnischen ist das Wort kulp (die Kelle), das mich sehr an Onomatopoesie erinnert, mit dem Geräusch, das eine Kelle macht, wenn man sie unter die Wasseroberfläche drückt. Ein weiteres meiner Lieblingswörter ist das Wort nunnu (süß/niedlich). Es wird aufgrund der zwei ns ähnlich wie nunju ausgesprochen und hört sich selbst schon sehr süß an.
Fazit
Ich lerne nun seit 5 Monaten Estnisch und kann sagen, dass es die schwerste Sprache ist, an die ich mich bisher gewagt habe. Das ist keineswegs etwas Schlechtes und macht mich umso glücklicher, wenn ich einen besonders schwierigen Satz richtig sage. Ich kann mittlerweile vieles (wenn auch womöglich umständlich) ausdrücken und meine Gedanken generell mitteilen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mir die Sprache zufällt, aber ich bemerke eine stetige Verbesserung. Wenn ich mit meiner Freundin in Deutschland bin, haben wir Estnisch nun als Geheimsprache. Man kann davon ausgehen, dass höchstwahrscheinlich niemand um einen herum die Sprache spricht und man sich in der Öffentlichkeit ganz privat unterhalten kann!
Am Anfang meines Praktikums konnte ich nur die Standardfloskeln, aber jetzt nach nur 5 Monaten des kontinuierlichen Lernens habe ich es geschafft, auf ein Niveau zu kommen mit dem ich mich gut unterhalten kann. Sicher brauche ich häufiger mal eine Wiederholung oder eine Umformulierung mit leichteren Wörtern. Das zeigt jedoch, dass man vom Sprachenlernen nicht zu eingeschüchtert sein sollte, auch wenn die Sprache als schwer kategorisiert wird. Die Esten sind sehr geduldig im Gespräch und freuen sich immer, wenn sie sehen, dass ein Ausländer sich die Mühe macht und ihre Sprache lernt. Grammatische Fehler werden schnell vergessen und Wörter mit Geduld wiederholt. Ich bin froh, die Sprache zu lernen. Es war eine persönliche Herausforderung für mich und ich bin stolz auf meine Fortschritte.