Austauschjahr mal anders – eine Deutsche in Estland

Anika Weiland

Estland, Lettland, Litauen – das erste Mal hörte ich von diesen Ländern in der 5. Klasse, als im Geografieunterricht die Länder Europas behandelt wurden. Damals war ich gerade einmal 11 Jahre alt und versuchte, mir irgendwie die Reihenfolge dieser drei kleinen Länder an der Ostsee einzuprägen. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich natürlich noch nicht, dass ich nur wenige Jahre später ein ganzes Schuljahr in einem dieser Länder verbringen würde – nämlich in Estland.

In meiner Teenagerzeit haben wir am Nachmittag häufig VIVAplus geschaut (einen Sender, den es heute gar nicht mehr gibt). Dort liefen immer die aktuellsten Musikvideos. Hier wurde ich dann erneut auf Estland aufmerksam, und zwar wegen der Band Vanilla Ninja, deren Musik mein Teenager-Ich ziemlich cool fand und mein Interesse an dem baltischen Land weckte. Meinen Entschluss, dass ich unbedingt einmal länger dort leben möchte, fasste ich, als ich einen Sommerurlaub mit meinen Eltern in Estland verbrachte. Ich wusste nur noch nicht wie. Aber auch diese Frage sollte sich bald klären, denn ich fand heraus, dass man so ein Austauschjahr während der Schulzeit in allen möglichen Ländern machen konnte, also auch in Estland. Während meine Mitschüler sich für das klassische Highschool-Jahr bewarben, kreuzte ich auf meiner Bewerbung Estland an – und damit begann meine Reise nach Estland und durch die estnische Sprache, die bis heute, ganze 17 Jahre später, noch immer nicht beendet ist.

Anika Weiland

Das Abenteuer beginnt

Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich schließlich im Flugzeug saß und gemeinsam mit anderen Austauschschülern in unser Austauschjahr nach Estland aufbrachen. In den ersten Tagen erhielten wir alle unseren ersten Estnischunterricht. Kaum jemand kannte zuvor mehr Vokabeln als tere („hallo“), minu nimi on („ich heiße“) oder nägemist („auf Wiedersehen“), aber nun konnten wir uns nach wenigen Tagen immerhin ordentlich vorstellen, nach Dingen fragen oder um Hilfe bitten. Das richtige Abenteuer sollte aber erst noch beginnen, als wir von unseren estnischen Gastfamilien abgeholt wurden, diese kennenlernten und unser neues Zuhause erkundeten. 

Ich sollte mit meiner Gastfamilie in einem kleinen Dorf zwischen Saku und Saue leben und eine Schule in Tallinn besuchen, zu der mich meine Gastmutter jeden Morgen zusammen mit meinen beiden kleinen Gastschwestern brachte. Die Anfangszeit war gar nicht so einfach, denn niemand in meiner Gastfamilie konnte wirklich etwas anderes sprechen als Estnisch, was natürlich beim Erlernen der Sprache half. Ich kann sagen, dass jüngere Gastgeschwister wirklich sehr beim Sprachenlernen helfen, denn zum einen drücken sie sich noch recht einfach aus und zum anderen haben sie keine Scheu davor, einen zu korrigieren. Noch heute erinnere ich mich daran, wie glücklich meine kleinen Schwestern waren, dass sie jemand Älterem etwas beibringen konnten, was sie auch mit allen Mitteln taten – mit Händen und Füßen, aber auch mit Bildern, die sie stets eifrig malten. Gerade am Anfang habe ich viele Nachmittage damit verbracht, zusammen mit den beiden Kinderserien zu schauen, Kinderbücher mit ihnen zu lesen (oder es zu versuchen) oder einfach nur mit ihnen zu spielen. Durch das Spielen lernt man wirklich schnell, in alltäglichen Situationen zurechtzukommen, denn Kinder lieben es, Einkaufsladen zu spielen oder Szenen aus dem Café oder Restaurant nachzuahmen. Abends schauten wir in der Familie oft zusammen Filme, was ebenfalls ungemein beim Estnischlernen half, denn die Filme laufen dort in der Originalsprache, also meist auf Englisch (teilweise sogar auf Deutsch) mit Untertiteln. Manchmal sage ich heute noch scherzhaft, ich hätte Estnisch durchs Untertitellesen gelernt. 

Von Füchsen und kleinen Kindern

Einen weiteren großen Teil meines Austauschjahres verbrachte ich natürlich in der Schule und mit Freunden. Da ich allerdings in eine bilinguale Klasse mit Englisch als Fremdsprache gesteckt wurde, trat das Estnische hier gerade anfangs sehr in den Hintergrund. Allerdings half dieser Umstand, um zunächst Anschluss zu finden und Freundschaften zu schließen, da wir uns recht fließend auf Englisch unterhalten konnten. An die Schule habe ich viele lustige Erinnerungen. Ich kam in die 10. Klasse, also die Klasse, in der man in Estland erst einmal in der „Rebane“-Woche, also der Fuchswoche, „getauft“ werden muss. Eine Woche lang mussten wir Zehntklässler in Rot gekleidet, wie kleine Füchse, zur Schule kommen, während die Schüler der 12. Klasse uns auf scherzhafte Weise ärgern durften. Meist wurden wir mit Wasser, manchmal aber auch mit Senf bespritzt. Man schrieb uns mit Lippenstift rebane („Fuchs“) auf die Stirn oder malte uns Herzchen auf die Wangen. Mittagessen durften wir nur mit Stäbchen und als Schultasche waren ausschließlich Müllbeutel erlaubt, was im Nachhinein sicher ein guter Schutz für unsere Schulsachen war. Es war auf jeden Fall ein sehr witziges und aus deutscher Perspektive einmaliges Erlebnis.

Anika Weiland

In meiner Schule war man sehr bemüht, mich so gut es ging beim Estnischlernen zu unterstützen. So erhielt ich von der Estnischlehrerin meiner Klasse jede Menge Privatstunden und wurde, während meine Klassenkameraden gerade Russischunterricht hatten, in die 2. Klasse geschickt, um mit den Kleinen die Grundsätze der estnischen Grammatik zu pauken. Es war wirklich immer sehr lustig, wie ich da auf einem viel zu kleinen Stuhl an einem viel zu kleinen Tisch inmitten vieler kleiner Schüler saß, die das unglaublich unterhaltsam fanden. 

Zurück in Deutschland

So ein ganzes Jahr in Estland bietet viele Möglichkeiten, um die Sprache zu lernen. Am Ende des Jahres konnte ich sehr viel verstehen. Ich konnte Bücher lesen, die nicht für Kinder geschrieben waren, und mich recht gut unterhalten. Doch meine Reise durch die estnische Sprache ging natürlich weiter, denn seit meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich viel dazugelernt. Schon damals stand für mich fest, dass ich Finnougristik studieren wollte, also die Sprachfamilie, zu der auch das Estnische gehört, was ich später dann auch tat. Da ich Estnisch während meines Austauschjahres eher intuitiv gelernt hatte, musste ich mich nun wirklich konsequent mit den grammatischen Regeln auseinandersetzen, was meine Sprachkenntnisse noch einmal deutlich verbesserte.

Nun habe ich bereits seit einigen Jahren keine akademischen Berührungspunkte mehr mit dem Estnischen, was aber natürlich nicht bedeutet, dass ich meinen Bezug verloren habe. Nach wie vor habe ich Kontakt zu meiner Gastfamilie, mit der ich ausschließlich auf Estnisch kommuniziere. Wenn mich jemand besucht, bitte ich meine Gäste oft, mir estnische Bücher mitzubringen, und dank des Internets hat man heutzutage sowieso zahlreiche Möglichkeiten, um sich weiter mit der Sprache zu beschäftigen. Verschiedene Streamingdienste bieten nicht nur estnische Musik, sondern auch Podcasts an, auf Radio- und TV-Sendungen kann man praktisch von überall auf der Welt aus zugreifen und dank der vielen Messenger-Apps ist es ein Leichtes, mit Freunden und Bekannten in der Ferne in Kontakt zu bleiben. Auch im realen Leben werden wohl in jeder größeren Stadt Esten zu finden sein, die sich nur allzu gerne auf einen Kaffee treffen möchten, um sich in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

Eintauchen in die estnische Sprache

Das Erlernen der estnischen Sprache mag erst einmal nicht einfach sein, da es keine indoeuropäische Sprache ist und somit von den uns bekannten, grammatischen Strukturen abweicht (es sei denn, man hat bereits vorher eine andere agglutinierende Sprache gelernt oder spricht sie gar als Muttersprache, wie Türkisch oder Japanisch). Gleichzeitig gibt sie einem so viel zurück. Nicht nur wertschätzen es die Esten, dass jemand ihre Sprache lernt, sondern es öffnet einem auch die Tür zu einer anderen Kultur mit einer langen Geschichte, toller Literatur und ebenso guten Filmen, die für viele andere verschlossen bleibt. 

Natürlich gibt es den ein oder anderen Film, den man auch außerhalb Estlands kennt. So kann ich mich daran erinnern, dass der Film „Die letzte Reliquie“ sogar mal im deutschen Fernsehen in einer synchronisierten Version lief. Ein anderer Film, der international zu größerer Bekanntheit gelangt ist, ist Mandariinid („Mandarinen“), der sogar für den Oscar nominiert war. Als ich noch Studentin war, haben wir im Institut gemeinsame Filmabende veranstaltet, um estnische Filme anzuschauen. Ich erinnere mich noch an Titel wie Vehkleja („Die Kinder des Fechters“), einer der neueren Filme, oder Klassiker wie Kevade („Frühling“) und Sügis („Herbst“). Die estnische Filmlandschaft ist recht vielfältig. Einige beschäftigen sich mit der Geschichte des Landes, andere wie Klass („Schulklasse“) mit sozialen Problemen. Und natürlich mangelt es auch nicht an Komödien, wie z. B. Schnauze voll

International bekannte estnische Autoren gibt es hingegen eher weniger. Jedes estnische Kind und wohl auch jeder, der jemals Estnisch gelernt hat, wird Namen wie Anton Hansen Tammsaare, Kristjan Jaak Peterson oder Lydia Koidula zumindest einmal gehört und vielleicht auch etwas von ihnen gelesen haben. Aber natürlich hat nicht jeder eine Vorliebe für alte Klassiker, sondern greift lieber zu moderner Literatur. Auch hier gibt es Autoren, die wohl jeder in der estnischsprachigen Welt kennt, wie Andrus Kivirähk und Jaan Kross. Letzterer wird vielleicht sogar einigen aus der ehemaligen DDR ein Begriff sein, da seine Werke bereits vor 1990 dort in deutscher Sprache erschienen. Ich selbst habe neben etlichen Klassikern auch moderne Werke gelesen – besonders gerne lese ich Krimis, die in Estland spielen.

Auf keinen Fall vergessen sollte man natürlich Kalevipoeg – den habe ich sogar während meines Studiums einmal in einer Hausarbeit über Nationalepen auseinandergenommen. Kalevipoeg reiht sich in eine lange Reihe von Werken wie Beowulfoder das Nibelungenlied ein.

Es lohnt sich also auf jeden Fall, tiefer in die estnische Sprache einzutauchen, wenn man die Werke der zahlreichen estnischen Autoren entdecken möchte. Für den Anfang lohnt es sich auch, auf Übersetzungen zurückzugreifen oder einfach einen gemütlichen Filmabend mit Untertiteln zu veranstalten – möglicherweise gibt es sogar eine synchronisierte Version.

Schlüsselwörter: Übersetzung Übersetzungsbüro

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